Weil Kinder Wurzeln und Flügel brauchen…
Brigitte Sindelar
Kinderschutz ist derzeit in der Öffentlichkeit konnotiert als Hilfestellung für Kinder und Jugendliche, bei denen der Kinderschutz versagt hat: Missbrauchs- und Gewaltopfer, also Kinder und Jugendliche, denen bereits Leid, meist körperliches Leid, angetan wurde. In diesen Bankrottsituationen der Menschlichkeit ist es dennoch recht einfach, Solidarität zu finden: Wer sich auf die Seite dieser Kinder stellt, deklariert öffentlich, dass er nicht zu den Tätern und Täterinnen gehört, sondern zu den „Guten“ – auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Selbstdeklaration vielleicht einer Prüfung im persönlichen Leben nicht standhalten würde.
Ungleich schwieriger ist es, Verbündete im Kinderschutz zu finden, wenn es um Inhalte geht, die nicht mehr als persönlichkeitsfern wahrgenommen werden können, wie etwa um das Entwicklungsrisiko Erziehung. Ein derzeit vorrangiges Thema in der Bildungspolitik ist Gewaltprävention in Schulen - gemeint ist allerdings nie, Lehrer daran zu hindern, seelische Gewalt an SchülerInnen auszuüben. Wie schwerfällig ist das System Schule, wenn von ihm gefordert wird, seine Verliebtheit in den Fehler für eine ermutigende Pädagogik aufzugeben; wie schwierig ist es für Eltern, die Schädlichkeit von Strafen für die kindliche Entwicklung anzuerkennen und die Strafe als das Versteck für Gewalt zu entlarven!
Gelebte Kinderfreundlichkeit macht unbeliebt bei denen, die die Schmerzen ihrer eigenen Kindheit nicht mehr wahrnehmen können und von der Opferseite auf eine sozial akzeptierte Täterseite wechseln, wie etwa Eltern, die eine „gewisse Abhärtung“ (was für ein Wort!) der Kinder für notwendig und förderlich halten.
Wovor müssen wir Kinder schützen? Ob es die Kinderarbeit in Bergwerken oder Sondermülldeponien ist, ob es die Kindersoldaten sind, ob es die Kinder in unserer Nachbarschaft sind, die mit der „gesunden Watsch´n“ aufwachsen, die missbraucht werden, die von Lehrern gemobbt werden, die vernachlässigt werden: Es sind immer die Erwachsenen, vor denen Kinder geschützt werden müssen.
Dem englischen Dichter William Wordsworth (1770–1850) verdanken wir den Satz, der uns den Weg zur Nachhaltigkeit im Kinderschutz weist: „The Child is Father of the Man“ – gendergerecht ins Heute übersetzt: „Das Kind ist der Vater des Mannes, die Mutter der Frau“. Erfahren Kinder, dass sie in Geborgenheit zur Freiheit wachsen dürfen, dann werden sie als Väter und Mütter diese Erfahrung in die nächste Generation weiter tragen, Goethes Aufforderung gerecht werdend: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel“. So schützt Kinderschutz nicht nur Kinder, sondern zugleich auch die Erwachsenen, weil, wie Hans Czermak es ausdrückte, „der Friede im Kinderzimmer beginnt“.
Effizient ist Kinderschutz dann, wenn er überflüssig ist – ein weiter Weg. Um auf diesem Weg voranzukommen, bedarf es mehr als gemeinsam darüber nachzudenken und miteinander darüber zu reden, denn: „Es ist nicht genug zu wissen - man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen - man muss auch tun“ (Johann Wolfgang v. Goethe).
Nostalgisches:
Ein sprachgewandter Zweijähriger beendet seinen Erfahrungsaustausch mit seinem Kinderarzt über die Schmackhaftigkeit bestimmter Nahrung und dem Informationsgewinn über deren Nährstoff- und Vitamingehalt nach der ärztlichen Untersuchung wie immer mit dem obligatorischen Bussi für seinen „Onkel Hans“ mit der Aufforderung: „Jetzt sprich noch ein bisschen mit der Mami, ich will da noch spielen!“ und wendet sich den Spielsachen im ärztlichen Untersuchungszimmer zu. Onkel Hans und Mami nützen die Gelegenheit, und dabei fällt das Wort: „Erziehung“. Das ins Spiel vertiefte Kleinkind schnappt dieses ihm offensichtlich neue Wort auf und fragt nach der Definition: „Mami, was ist denn das, Erziehung?“ Worauf Onkel Hans feststellt: „Was Vitamine sind, weiß er. Aber was Erziehung ist, nicht – typisch Dein Kind.“
Univ.Doz.in Dr. in Brigitte Sindelar, Klinische Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, in freier Praxis, Lehrtherapeutin, ,
Vizerektorin für Forschung der Sigmund Freud PrivatUniversität.