Die Notwendigkeit für eine gelungene Maßnahme in „gelb“

Es ist für mich pure Untertreibung, wenn man hier „nur“ von einer gelungenen Maßnahme oder Notwendigkeit spricht. In Wahrheit ist es kaum in Worte zu fassen, welche großartigen Erfolge bzw. Verbesserungen für Mütter und Kinder, durch die Einführung der Untersuchungen des Mutter-Kind-Pass, erzielt wurden.
1973 lag die Säuglingssterblichkeit in Österreich bei 23,5 Todesfällen pro Tausend Kinder. Damit war Österreich in dieser Kategorie das Schlusslicht in Westeuropa. Schon 10 Jahre nach Einführung des Mutter-Kind-Pass halbierte sich diese dramatische Zahl an Todesfällen, um bis heute auf ein Niveau von 2,7 Sterbefällen pro 1000 Geburten im Jahr 2021 zu sinken.
Eine weitere Notwendigkeit war die Reduktion der Müttersterblichkeit (Tod der Mutter während der Schwangerschaft, bei Geburt sowie innerhalb von 42 Tagen nach der Geburt). Diese Zahl an Todesfällen lag in Österreich zwischen den Jahren 1964 und 1973 bei 345,2 Mütter pro 100.000 lebendgeborenen Kinder (35 Todesfälle pro Jahr). Auch hier konnten die getroffenen Maßnahmen eine signifikante Reduzierung auf nur noch 24,5 Fälle/100.000 Lebendgeborene (3 Todesfälle im Jahr) zwischen 2004 und 2012 bewirken. Diese Zahl an verstorbenen Müttern in der Schwangerschaft, bei Geburt und 42 Tage nach der Geburt ist mit 2,4 Todesfälle je 100.000 Lebendgeborene im Jahr 2020 konstant geblieben.
Erwähnenswert für mich ist, dass die für den Mutter-Kind-Pass verantwortliche Gesundheitsministerin, Dr. Ingrid Leodolter, selbst ausgebildete Fachärztin für Innere Medizin, ein Vorsorgeinstrument für Frauen geschaffen hat, indem Sie neben der gynäkologischen auch einige, wichtige, internistische Untersuchungen in das Programm aufgenommen haben wollte.
1974 – Die „Geburtshelfer“ des Mutter-Kind-Pass
Nach so vielen Jahren dieser Erfolgsgeschichte ist es schwierig die Aussagen der Zeitzeugen*innen, in Bezug darauf, wer die ursprüngliche Idee zum Mutter-Kind-Pass hatte, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Unbestritten, denke ich, wollten damals alle „Geburtshelfer/innen“ dieses wirkungsvollen Gesundheits- und Vorsorgeinstrumentes, aus den Bereichen Politik und Medizin, eine Verbesserung für Mütter und ihr Neugeborenes, erreichen.
Es ist vor allem der damaligen Gesundheitsministerin Dr. Ingrid Leodolter – selbst Fachärztin für Innere Medizin – zu verdanken, dass es seit nunmehr 48 Jahren diese Erfolgsgeschichte namens „Mutter-Kind-Pass“ gibt. Laut Auskunft ihres Sohnes, Univ.-Prof. Dr. Sepp Leodolter, von Beruf Gynäkologe, hat seine Mutter Experten aus dem In- und Ausland mit der Ausarbeitung und Zusammenstellung der Untersuchungen für Mutter und Kind, im Rahmen des Mutter-Kind-Pass Programmes, beauftragt. Es war der Verdienst von Ministerin Ingrid Leodolter, dass hier Mediziner aus den Bereichen Gynäkologie, Kinderheilkunde und Anästhesie, für ein gelungenes „Produkt“ bzw. „medizinisches Maßnahmenpaket“, zusammengearbeitet haben.
Im Gespräch mit Dr. Sepp Leodolter wurden einige damalige Akteure, wie zum Beispiel Univ.-Prof. Dr. Hans Czermak (Kinderarzt und Sozialpädiater), Univ.-Prof. Dr. Alfred Rosenkranz (Kinderarzt), Univ.-Prof. Dr. Otto Thalhammer (Kinderarzt und Neonatologe), Univ.-Prof. Dr. Arnold Pollak (Kinder- und Jugendheilkunde), Univ.-Prof. Dr. Andreas Rett (Neurologe und Kinderarzt), Univ.-Prof. Dr. Fred Kubli (Gynäkologe, Univ.-Frauenklinik Heidelberg), Univ.-Prof. Dr. Erich Saling (Schwangerschafts-, Geburts- und Perinatal-Mediziner, Städtische Frauenklinik Berlin-Neukölln und Universität Berlin) genannt und natürlich erhebt diese Auflistung nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Wie gesagt liegen die „Geburtsvorbereitungen“ für den Mutter-Kind-Pass schon 48 Jahre zurück.
Wie war die Akzeptanz in der Bevölkerung und im medizinischen Bereich?
Der Mutter-Kind-Pass wurde von Frauen bzw. Müttern schon sehr bald nach Einführung im Jahre 1974 sehr gut angenommen. 97 bis 98 Prozent der Schwangeren folgten dem Aufruf die sinnvollen Untersuchungen durchzuführen. Laut Aussage von Dr. Sepp Leodolter spielte auch das Monetäre, die Auszahlung von damals 1000,- Schilling pro Untersuchung, eine gewichtige Rolle zur „breiten“ Zustimmung.
Der heuer verstorbene „Krone“ Kolumnist Richard Nimmerrichter alias „Staberl“ soll dieses finanzielle Anreizsystem in einer seiner Kolumnen als „Wurfprämie“ bezeichnet haben. Und schon zu damaligen Zeiten waren es die Interessensvertretungen von Ärzten*innen (Ärztekammern) in Österreich, die offiziell für eine angemessene finanzielle Abgeltung der hier erbrachten Mediziner*innen-Leistungen und gegen den zusätzlichen Verwaltungsaufwand „auftraten“.
Leodolter berichtete, dass es damals auch ein System für statistische Aufzeichnungen gegeben hat. Mittels „Durchschreibverfahren“ sollte eine Kopie, für statistische Zwecke, an das Gesundheitsministerium geschickt werden. Dieser Aufwand war vielen Ärzten ein großer und daher ist eine zukünftige, elektronische, Datenverarbeitung mit Sicherheit von Vorteil. Trotzdem hat es eine bestimmte Qualität, wenn man als Eltern (auch) ein „festes“ Dokument, in Form eines Daten- und Informationsheftes in Händen hat und darin „blättern“ statt „wischen“ kann.
War die Einbindung der Kindesväter damals ein Thema?
Laut Angabe von Dr. Birgit Streiter hat der Kinderarzt und Sozialpädiater Hans Czermak schon zu damaliger Zeit die Väter oder genauer gesagt deren oft „zugeschriebenen Rollen“ in der Beziehung zu ihren Kindern sowie deren Teilhabe an der Pflege und Erziehung des eigenen Nachwuchses „wohlwollend“ kritisch betrachtet und dies offen ausgesprochen. Auch in einem seiner Bücher – Erste Kindheit. Ein ärztlicher Ratgeber für das 1. und 2. Lebensjahr. 5. Auflage, Österreichischer Bundesverlag, Wien 1992 - hat er die Notwendigkeit nach Unterstützung, Aufklärung und bewusstseinsbildenden Maßnahmen für die Allgemeinheit und insbesondere Väter in Bezug auf die oben genannten Thematiken genannt und seinen Wunsch einer Umbenennung des Mutter-Kind-Pass in „Eltern-Kind-Pass“ zum Ausdruck gebracht. Mitte der Siebzigerjahre, also bei der Zusammenstellung des Untersuchungsprogrammes ist jedoch auch Dr. Sepp Leodolter keine öffentliche Diskussion darüber bekannt.
Die Möglichkeiten für Väter haben sich im Gegensatz zu früher um ein Vielfaches verbessert. Damals war es absolut unmöglich, dass ein Vater bei der Geburt anwesend sein durfte. Heutzutage stellt das sogar beim sogenannten „Kaiserschnitt“ – Prozedere kein Problem mehr dar und „Rooming-in“ in Krankenhäusern, sowie Entbindungsstationen, ist in Österreich zum Standard geworden. Außerdem gibt es schon des längeren die Möglichkeit für Väter in Elternkarenz zu gehen und bei Vorbereitungskursen zu Schwangerschaft und Geburt ist man als teilnehmender „Mann“ keine „Ausnahme“ oder „Einzelattraktion“ mehr.
Psychosoziale Beratung im „Eltern-Kind-Pass“
Beide Gesprächspartner begrüßen die Aufwertung des Untersuchungs- und Betreuungsprogrammes im „Eltern-Kind-Pass“ um eine psychosoziale Beratung. Diese sollte, wie auch das Beratungsgespräch mit einer Hebamme, mit einem Anreizsystem (Bonuszahlung) aufgewertet werden.
Die Mitarbeiter*innen des Österreichischen Kinderschutzbund in Wien setzen sich schon sehr lange und beharrlich für die Implementierung von Basisinformationen über die humane, gewaltfreie Erziehung in Kombination mit dem „Mutter-Kind-Pass“ ein. Sinnstiftender Weise als fixes Element im bestehenden, finanziellen „Anreizsystem“ implementiert. Schlussendlich geht es um die gesunde Entwicklung des Kindes, zu einem psycho-sozialen und physisch gesunden Erwachsenen. Es kann der Vermeidung von Gewalttaten am Säugling (Stichwort: Schütteltrauma), die häufig durch Unwissenheit und Überforderung der „neuen“ Eltern passieren, sehr zuträglich sein, wenn ausgebildete „Erziehungs- und Familienberater*innen“ vor der Geburt oder spätestens „zeitnahe“ nach der Geburt mit den Eltern, „unter anderem“, darüber sprechen.
Es würde den zeitlichen Rahmen „sprengen“ wenn an dieser Stelle über alle positiven Aspekte einer gut durchgeführten psychosozialen Beratung für Eltern/Obsorgeberechtigte und die erstrebenswerten Auswirkungen auf das Zusammenleben innerhalb und außerhalb von Familien mit Kindern (z.B. Spiel-, Sportplatz, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung) ausführlicher berichtet würde.
Man darf gespannt sein, was die zuständigen Ministerien mit „Psychosozialer Beratung“ im Eltern-Kind-Pass im „Sinn“ haben und ob es in die von uns vorgeschlagene Richtung der Unterstützung für Eltern mit Basiswissen geht. Ebenso, ob hierfür spezialisierte Fachkräfte aus den Bereichen Elternbildung, Erziehungs- und Familienberatung (Gewerbe Personenberatung, -betreuung/Lebens- und Sozialberater*innen) eingesetzt werden oder ausschließlich Psychologen* und Psychotherapeuten*.
Enttäuschend wäre für mich, wenn psychosoziale Beratung ausschließlich mittels Fragebogen (Checklist) durch Kinderärzte*innen oder Gynäkologen*innen „abgefragt“ werden soll.
Das schon existierende bzw. im Mutter-Kind-Pass angebotene Hebammengespräch sollte, meiner Meinung nach, davon „unberührt“ bleiben und unbedingt mit einer Bonuszahlung oder besser noch der Integration in das bestehende, monetäre Anreizsystem (Kinderbetreuungsgeld) für konsumierende Eltern aufgewertet werden.
“Es sollten staatliche Zuwendungen an den Besuch eines Elternschulungsprogrammes gebunden werden, genauso wie sie für gewisse Untersuchungen für die schwangere Mutter und des Kindes verlangt werden.“ (Czermak, 1992)
Die Quantität und vor allem die Qualität der medizinischen und (hoffentlich bald) auch psychosozialen Maßnahmen werden die „Erfolgsgeschichte“ des Mutter-Kind-Pass (Eltern-Kind-Pass) weiterschreiben, denke ich. Es besteht hier, bei der Neugestaltung und Erweiterung dieses Vorsorgeinstrumentes um das Element „Eltern- und Erziehungsberatung“, die historische Chance, maßgeblich auf die Reduzierung von Gewalt innerhalb von Familien einzuwirken und einen Kontakt zwischen Elternschaft und unterstützenden Organisationen zu schaffen. Damit würde die Möglichkeit um ein Vielfaches erhöht werden, Kindern in der eigenen Familie eine „glückliche Kindheit“ zuteil werden zu lassen.
Benötigt werden Kassenkinderärzte*innen in ganz Österreich
Qualität muss jedoch auch bei den Neugeborenen und Ihren Eltern ankommen können. Das ist für Eltern, die eine Kassenkinderarztpraxis in ihrer Nähe suchen immer schwieriger. Das betrifft leider Familien in allen neun Bundesländern in Österreich. Eine Menge an Kassenkinderarzt*Praxen bleiben unbesetzt und das hat mehrfache Gründe.
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl von der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde hat hierfür u.a. unternehmerisches Risiko, Einzelkämpfertum, administrative Belastungen und ein kompliziertes, für viele unbefriedigendes Honorarsystem angegeben.
Zum Beispiel sind die Mutter-Kind-Pass-Honorare seit 1994 (also seit 27 Jahren) unverändert. Kerbl sagte weiter: „Innovative Modelle, Vereinfachungen im Honorarsystem und die Förderung der Lehrpraxis sind nur einige Punkte, die zu einer Verbesserung beitragen könnten. Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde hat Anfang 2020 ein Zehn-Punkte-Programm zur Verbesserung der Situation vorgelegt. Leider ist eine Umsetzung der dort gemachten Vorschläge bisher unterblieben.“ (Kerbl, 2022)
Hierzu wurde heuer auch eine Petition mit dem aussagekräftigen Titel: „SOS-Kinderarzt“. Versorgungsnotstand in Österreich beenden! durchgeführt.
Ich bedanke mich bei meinen Gesprächspartnern, Dr. Birgit Streiter und Dr. Sepp Leodolter, für die zur Verfügung gestellte Zeit und das Teilen ihres Wissens und ihrer Anekdoten aus der damaligen Zeit sowie den Hinweisen zur „Entstehung“ und den „Geburtshelfern“ des Mutter-Kind-Pass.
Sascha Hörstlhofer
Obmann Österreichischer Kinderschutzbund - Wien
Quellenangabe:
Telefonat (Recherche) mit Zeitzeugin Dr. Birgit Streiter, am 12.11.2022
Telefonat (Recherche) mit Zeitzeuge Univ.-Prof. Dr. Sepp Leodolter, am 17.11.2022
http://www.saling-institut.de/german/02saling/02cv.html
Czermak, H. (1992). Erste Kindheit: Ein ärztlicher Ratgeber für das 1. Und 2. Lebensjahr (5. Auflage). Österreichischer Bundesverlag, Wien.
(Internetquellen wurden abgerufen am 20.11.2022)
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